Wer kennt es nicht? Die stark parfümierte Großtante will eurem Nachwuchs unbedingt einen Schmatzer aufdrücken. Der Kitafreund mopst sich unerlaubterweise das Lieblingskuscheltier. Und Oma will einfach nicht akzeptieren, dass ihr geliebtes Enkelchen satt ist.
Kinder geraten regelmäßig in Situationen, in denen ihre persönlichen Grenzen nicht gewahrt werden. Es ist Aufgabe von uns Eltern, ihre Bedürfnisse zu erkennen und ihnen klarzumachen: Du darfst auch „Nein!“ sagen. Weil das auch uns Erwachsenen regelmäßig schwerfällt, bietet es sich an, das Kennenlernen und Kommunizieren der persönlichen Grenzen gemeinsam zu üben. In diesem Beitrag verraten wir euch, wie das geht.
Bedürfnisse, Freiheiten, Grenzen: Das sollten Kinder wissen
Mit Kindern über ihre persönlichen Grenzen und Bedürfnisse zu sprechen, ist nicht immer einfach. Oft haben Väter und Mütter genau das selbst nicht gelernt beziehungsweise (wenn überhaupt) erst im Erwachsenenalter verinnerlicht, nicht zu allem „Ja“ zu sagen.
Umso wichtiger ist es, Kindern möglichst einfach und dennoch einprägsam beizubringen, dass es okay ist, wenn sie Gleichaltrigen und auch Erwachsenen gegenüber klar benennen, wenn sie etwas nicht mögen oder möchten.
Sei es die erzwungene Umarmung, das Teilen von persönlichen Spielsachen oder eine Missachtung der Privat- bzw. Intimsphäre – Kinder müssen die Chance erhalten, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und zu lernen, dass nicht immer alles okay ist, was Mitmenschen tun.
Um mit eurem Nachwuchs altersgerecht darüber zu sprechen, könnt ihr die Begriffe „Grenzen“, „Bedürfnisse“ und auch „Freiheit“ beispielsweise durch „das, was du möchtest“ ersetzen und zusätzlich Beispiele wie „in Ruhe gelassen werden“, „keine fremden Leute umarmen“ oder „dein Lieblingsspielzeug nicht teilen“ benennen.
Außerdem solltet ihr klarmachen, dass jeder Mensch Grenzen und Bedürfnisse hat. Es ist also nicht nur wichtig, die eigenen zu kennen, sondern auch auf die der anderen zu achten.
Mit gutem Beispiel voran gehen
Die wohl beste (und gleichzeitig mitunter auch schwierigste) Methode, euren Kindern einen guten Umgang mit Grenzen beizubringen, ist, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Nur, wenn ihr als Eltern eure persönlichen Grenzen klar benennt und auch für sie einsteht, könnt ihr euren Kindern vermitteln, wie es funktioniert. Wir wissen nur zu gut, wie schwierig das ist, immerhin kennen wir alle diese Situationen, in denen wir „Ja“ sagen, obwohl doch alles in unserem Inneren laut „NEIN!“ schreit.
Unser Tipp: Sprecht offen mit euren Kindern darüber, wenn es euch selbst schwerfällt, eure Bedürfnisse zu kommunizieren. Hierdurch ergibt sich ein wundervolles „Ich bin nicht allein-Gefühl“. Es bestärkt euch gegenseitig, gemeinsam zu üben und für eure Grenzen einzustehen – sei es in der Kita, in der Schule oder im Job.
Auf die eigenen Körpersignale achten
Wer seine Grenzen klar kommunizieren möchte, sollte im ersten Schritt lernen, sie wahrzunehmen. Was hierbei sehr hilfreich ist, sind die eigenen Körpersignale. Wenn ihr bewusst auf diese achtet, werdet ihr mit der Zeit immer besser, eine nahende Grenzüberschreitung als solche zu identifizieren und auch zu kommunizieren.
Typische Körper- beziehungsweise Warnsignale sind:
- Grummeln im Bauch („Bauchgefühl“)
- aufsteigende Hitze
- pochendes Herz
- Angespanntheit (evtl. mit Schmerzen)
- innere Unruhe
- äußere Unruhe (oft spürbar in Armen und Beinen)
Unser Tipp: Verdeutlicht euren Kindern den Zusammenhang zwischen Körpersignalen und Grenzüberschreitungen, indem ihr ihn klar benennt. Ein Beispiel: „Puh, ich merke, wie ich innerlich ganz zappelig bin, kennst du das vielleicht auch? Ich glaube, mein Körper will mir damit sagen, dass…“
Wut und Aggression sind im Übrigen zuverlässige Zeichen dafür, dass eine Grenze bereits überschritten wurde. So gesehen sind sie eine (nonverbale) Kommunikation, die jedoch eher vermieden werden sollte.
Grenzen verinnerlichen durch Affirmationen
Ein anderer Weg, sich gemeinsam mit den eigenen Kindern dem Thema „Grenzen kennenlernen und kommunizieren“ zu nähern, sind Affirmationen. Diese sind weitaus mehr als abgedroschene Kalendersprüche, sondern können einen überaus positiven Einfluss auf dich und dein Kind haben.
Gut zu wissen: Affirmationen sind Glaubenssätze, die dabei helfen, eine bejahende und positive Grundhaltung einzunehmen. Sie können ganz unterschiedliche Wirkungen haben und beispielsweise unser Selbstbewusstsein stärken, negative Gedankenspiralen durchbrechen und Mut machen. Meist sind Affirmationen als Versicherungen uns selbst gegenüber formuliert.
Auch bei Affirmationen ist es eine ausgezeichnete Idee, gemeinsam zu üben und herauszufinden, welche Sätze euch am besten helfen, eure Grenzen zu wahren. Hier kommt ein bisschen Inspiration für euch:
- „Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Menschen zu gefallen.“
- „Es ist okay, nein zu sagen, wenn mir etwas nicht gefällt.“
- „Mein Körper gehört mir allein.“
- „Nein heißt nein.“
Grenzen wertschätzend kommunizieren: So geht‘s
Was in der Theorie ganz „easypeasy“ wirkt, erweist sich in der Praxis oftmals als harte Nuss. Kommen wir also zu der Frage: Wie kann ich meine Grenzen klar und dennoch wertschätzend kommunizieren? Und wie bringe ich genau das meinem Kind bei?
Die Antwort ist ebenso einfach wie herausfordernd: Indem ich auf meine eigenen Bedürfnisse und die meines Gegenübers eingehe. Was das konkret bedeutet, lässt sich am besten anhand von Beispielen erklären:
Wenn Eltern für sich sprechen:
„Ich weiß, dass du gern noch etwas kuscheln möchtest. Doch ich brauche eine Pause. Lass uns doch morgen wieder miteinander schmusen und die Nähe zueinander genießen.“ (Grenze: zu viel körperliche Nähe)
„Mein Schreibtisch ist sicherlich richtig spannend für dich, weil es hier so viele Sachen gibt, die du nicht kennst. Mir ist es allerdings wichtig, dass nur ich hier sitze, damit nichts kaputt geht und keine Unordnung entsteht. Vielleicht richten wir dir deinen eigenen Schreibtisch ein?“ (Grenze: Nutzung persönlicher Gegenstände)
Wenn Eltern für ihre Kinder sprechen:
„Weißt du, Tante Gabi, ich verstehe total, dass du dem Nils einen Kuss geben willst, weil du ihn so lange nicht gesehen hast. Doch bitte bedenke, dass er dich gar nicht richtig kennt. Außerdem hat er mir mal verraten, dass er dein Parfüm sehr stark findet und das mag er generell nicht so gern. Vielleicht mögt ihr euch erst einmal ein Highfive zur Begrüßung geben?“ (Grenze: zu viel körperliche Nähe)
„Hey Lina, du bist jetzt sicher traurig, weil dir Nils nicht seinen Bagger zum Spielen geben will. Du hast doch sicher auch ein Lieblingsspielzeug, das du nicht gern mit anderen teilst, weil sich das ganz blöd in deinem Bauch anfühlt. Genau das gleiche fühlt Nils jetzt auch. Gibt es hier vielleicht noch was anderes, womit du gern mal spielen möchtest?“ (Grenze: Nutzung persönlicher Gegenstände)
Es bedarf sicher einiger Übungseinheiten, ehe einem Aussagen wie diese einfach über die Lippen kommen. Wenn ihr euch noch intensiver damit auseinandersetzen möchtet, können wir euch das Konzept der gewaltfreien Kommunikation (GfK) ans Herz legen.
Unsere Aufgaben als Eltern
Von Kindern zu erwarten, dass sie sich so ausdrücken und gleichsam ihre eigenen und die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen benennen können, ist natürlich sehr viel verlangt. Aus genau diesem Grund ist es so wichtig, dass wir Eltern als ihr Sprachrohr fungieren und das aussprechen, was sie selbst (noch) nicht können. Hinzu kommen noch ein paar weitere Aufgaben:
- nonverbale Kommunikation fördern („Du kannst auch einfach die Hand weit von dir strecken oder die Arme wie ein Kreuz machen, wenn du etwas nicht möchtest.“)
- Gefühlen „Namen“ geben, um sie besser benennen zu können („Kann es sein, dass du dich gerade eingeengt/unsicher/missverstanden/… fühlst?)
- Gefühle ernst nehmen („Ich glaube dir, dass du dich gerade eingeengt/unsicher/missverstanden/… fühlst.“)
- Adultismus aufspüren und ablegen (= Diskriminierung jüngerer Menschen aufgrund des Machtgefälles zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen)
- Reaktionen aus unserem Umfeld abfangen („Nils ist nicht bockig. Er steht klar für seine Grenzen ein – das ist etwas sehr Wichtiges/Starkes ist.“)
- ein „Nein“ nie zum Anlass für Konsequenzen nutzen („Na gut, aber dann darfst du heute Abend nicht...“)
- Empathie auf allen Seiten fördern („Ich würde dir gern erklären, warum sich Nils gerade so fühlt. Nils, darf ich dir kurz erzählen, warum Tante Gabi dich so unbedingt küssen möchte?“)
- unsere eigenen Grenzen spüren und kommunizieren
„Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die des Anderen beginnt.“
Als Immanuel Kant das sagte, dachte er vermutlich nicht explizit an Kinder und deren persönliche Grenzen. Wir finden trotzdem, dass das Zitat der perfekte Abschluss für dieses Thema ist.